Im antisemitischen Zerrbild des lüsternen Juden, der aufgrund seiner ungezügelt triebhaften Art eine Gefahr für die in den Volkskörper integrierte Frau darstellt, tritt die Bedeutung des Geschlechterverhältnisses für das antisemitische Denken deutlich zutage. Wie aktuell dieses, vor allem im Nationalsozialismus häufig reproduzierte Bild ist, fällt zum Beispiel dann auf, wenn es der Kabarettistin Lisa Eckhart mit Witzen über die im Kontext der #MeToo-Bewegung angeklagten Männer Harvey Weinstein, Roman Polański und Woody Allen gelingt, sowohl Gelächter, als auch einen medialen Skandal zu provozieren, der wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass Eckhard sich bei der Reproduktion von Zerrbildern längst nicht nur auf Juden reduziert, sondern ihre Witze auch auf Kosten von Schwarzen, People of Color, Homosexuellen und anderen Marginalisierten macht.
Das Geschlechterverhältnis scheint für die antisemitische Konstruktion von Jüdinnen und Juden essentiell zu sein. Die angebliche Überschreitung der Geschlechtergrenzen wird Verfolgten zum Vorwurf gemacht, ihre Sexualität wird problematisiert und AntisemitInnen können sich in Abgrenzung dazu ihre eigene, scheinbar authentische Identität erhalten. Hinzu kommen zahlreiche Männerbünde, die auch heute Antisemitismus und Sexismus als einheitsstiftende Ideologien in ihren jeweiligen Organisationen propagieren. Die Ideologien treten, wie im Beispiel der Incel-Bewegung, nebeneinander auf. Sowohl Juden als auch Frauen werden für die eigenen Entbehrungen und Kränkungen zur Verantwortung gezogen. Wird Antisemitismus als Problem erkannt, wird es häufig ebenfalls vergeschlechtlicht: Ljiljana Radonić betont, dass die aktive Rolle von Frauen im Nationalsozialismus lange Zeit nicht erwähnt oder aber rationalisiert worden ist, wodurch sich der Mythos von Frauen vor allem als Opfern des NS hartnäckig halten konnte. (Vgl. Radonić, 2020). Antisemitismus wird damit zu einem Problem gemacht, welches ausschließlich Männer betrifft.
Unsere Veranstaltungsreihe soll der Frage nach der Rolle von Geschlechterkonstruktionen für das antisemitische Denken nachgehen. Es sollen Erklärungsansätze für Fälle gefunden und diskutiert werden, in denen antisemitische Ideologie gepaart mit Vorstellungen von Geschlecht in Erscheinung treten. Einerseits scheint antisemitische Ideologie eine Funktion für die Aufrechterhaltung des Geschlechterverhältnisses zu haben und so eine mittelbare Funktion für die Subjekte und die Aufrechterhaltung ihrer Grenzen zu erfüllen, andererseits lässt sich der Sexismus für antisemitische Propaganda in den Dienst nehmen. Antisemitische Zerrbilder wie das des lüsternen Juden müssen in Anbetracht der vielfältigen Funktionen, die sie erfüllen, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden.
Die Veranstaltungsreihe widmet sich daher der Frage nach den Wechselwirkungen von Geschlechterkonstruktionen und antisemitischem Denken. Wie können Fälle wie die des lüsternen Juden interpretiert werden, in denen antisemitische Konstruktionen auf dem Vorwurf des verfehlten Geschlechtscharakters basieren? Wie können diese Fälle in der pädagogischen Praxis besprochen werden? Der Zweck unserer Reihe ist ein pädagogischer. Wir erhoffen uns dadurch Impulse für ein Vermittlungskonzept gewinnen zu können, mit dessen Hilfe die Bedeutung von Geschlechterkonstruktionen im antisemitischen Denken für SchülerInnen thematisierbar und verstehbar gemacht werden kann. Das Vermittlungskonzept soll Erklärungen für die ideologischen Zusammenhänge bieten, aber auch Schüler*innen dazu motivieren, eigene Fragen und Erklärungsansätzen zu entwickeln. Zudem sind wir überzeugt, dass das theoretische Wissen um ideologische Verschränkungen von Antisemitismus und Sexismus als Hintergrundwissen für die pädagogische Praxis von Interesse sein kann.
Die Reihe soll aus vier Online-Vorträgen bestehen und wird nach Anmeldung Interessierten offen stehen. Die einzelnen Vorträge sollen als Grundlage für eine anschließende Diskussion dienen, welche schließlich zur Entwicklung eines pädagogischen Konzepts führen soll. Das Konzept soll den Teilnehmenden der Veranstaltung zur Verfügung gestellt werden. Die Entwicklung des Konzeptes soll auf das konkrete Material der jeweiligen Referierenden bezogen sein. Materialien, an denen sich Auswirkungen des Geschlechterverhältnisses auf das antisemitische Denken aufzeigen lassen, sollen so erklärbar gemacht werden.
Am 06.10. wird Prof. Dr. Meike Günther von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin zu Verkörperungen antisemitischer Stereotype durch Geschlechterkonstruktionen referieren.
Am 20.10. folgt dann ein Beitrag von Kerstin Dembsky, M.A von der Uni Münster. Sie wird das Thema Antisemitismus und Geschlecht in der westdeutschen neuen Frauenbewegung aufgreifen und dabei auf die Potenziale ihrer Erforschung für die gegenwärtige anti-antisemitische Bildungsarbeit eingehen.
Dr. Ljiljana Radonić von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wird am 3.11. zum Thema ‚Antisemitismus und Geschlechterverhältnis‘ am Beispiel von NS-Täterinnenschaft referieren.
Schließlich wird Veronika Kracher am 17.11. zu Antisemitismus und Misogynie in Männerbünden referieren.
Zur Teilnahme ist eine Ameldung erforderlich, dafür reicht eine formlose E-Mail an info@rabulo.de
Vor der Veranstaltung verschicken wir dann den Link zur Online-Konferenz.
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